Der nervende Beifahrer ist jetzt serienmäßig

„Fahr nicht so schnell.“, „Vorsicht, der bremst.“ oder „Die Ampel ist rot.“ Niemand liebt sie, jeder kennt sie, die ständigen Kommentare vom Beifahrersitz. Leider haben die Automobilhersteller den nervenden Beifahrer digitalisiert und bauen ihn ab sofort serienmäßig in jedes Auto ein – nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen. Denn nach einer Verordnung der EU sind ab übermorgen eine ganze Reihe von Assistenzsystemen vorgeschrieben: Unter anderem ein „intelligenter Geschwindkeitsassistent“, der zumeist alles ist, nur nicht intelligent. Er warnt den Fahrer vor dem Überschreiten der zulässigen Höchstgeschwindigkeit – oder was er dafür hält.

Bereits 2011 hatte die EU festgelegt, dass die „Intelligent Speed Adaption“ (ISA) in Neuwagen zur Pflicht wird – neben weiteren Assistenzsystemen wie Notbrems- und Spurhalteassistent oder die Müdigkeitserkennung. Der Rechtsakt ist Teil der europäischen Kampagne für mehr Sicherheit und weniger Verkehrstot. Ob dieses Ziel damit erreicht wir, ist mehr als fraglich.

Viele Autohersteller haben die Systeme bereits installiert. Wer ein solches Auto fährt, braucht vor allem eines: starke Nerven. Denn der Geschwindigkeitsassistent muss laut Vorschrift schon ab einer Überschreitung von einem km/h warnen, zunächst optisch, dann akustisch. Die Tempolimit so genau einzuhalten ist so gut wie unmöglich. Selbst der Tempomat vieler Fahrzeuge versagt dabei. Und nebenbei bemerkt: Ein Tacho eilt meist ein paar Stunenkilometer vor. Auch der Spurhalteassistent greift gerne elektronisch ins Lenkrad, wenn man dem Mittelstreifen nur zu nahe kommt. Von unnötig ausgelösten Notbremsungen können ebenfalls schon viele Autofahrer berichten.

Die zulässige Höchstgeschwindigkeit wird von einer Verkehrszeichen-Erkennung per Kamera und den Navigationsdaten ermittelt. Hier lauern schon die ersten Fallstricke, denn nicht selten widersprechen sich die Angaben an der Straße und auf der Karte. Laut EU-Vorgabe sollte die Kamera, die meist in der Windschutzscheibe installiert ist, neun von zehn Schilder richtig lesen – wenn diese nicht verschmutzt und frei sichtbar sind. Die meisten Systeme sind zwar unter Idealbedingungen besser, doch was heißt das schon: Im Sommer sind Schilder oft von Ästen verdeckt, im Herbst und Winter verdreckt oder von Lastwagen zugeparkt. Auch die Daten in der Navigationskarte sind nicht immer aktuell.

Die Folge sind Fehlalarme. Zudem führt die geringe Toleranz von einem Stundenkilometer zu ständigen Warntönen. Genau hier lauert die Gefahr: Der Fahrer beginnt, die akustischen Signale seines Autos zu ignorieren. Warnt es dann vor einer echten Gefahr, bleibt auch diese Warnung ungehört. In der Wissenschaft nennt man das den „Cry Wolf“: Wer ständig vor dem Wolf warnt, obwohl er nicht in der Nähe ist, wird überhört, wenn er dann wirklich ins Dorf kommt.

Dass der Geschwindigkeitsassistent abgeschaltet werden kann, ist ein schwacher Trost: Denn zum einen schaltet sich das System bei dem Neustart des Autos wieder ein, zum anderen muss man sich in manchen Fahrzeugen auf dem Bildschirm durch mehrere Untermenüs klicken, um den Warnton abzuschalten. In dieser Zeit ist man dann im Blindflug unterwegs: „Wir würden uns nicht wundern, wenn man Ende feststellt, dass der Geschwindigkeitsassistent nicht zu weniger, sondern zu mehr Unfällen fährt“, sagt ein Sprecher des Verkehrsclub von Deutschland (AvD). Auch die zulässige Fehlerquote von zehn Prozent hält der AvD für zu hoch: „Wenn jedes zehnte Tempowarnung falsch ist, hört man bald gar nicht mehr auf Warntöne.“

Auch nach Erkenntnissen des ADAC ist das System „aktuell nicht ausreichend erprobt und ausgereift, daher ist die vorgesehene Abschaltmöglichkeit sinnvoll. Als unterstützendes System kann es im Einzelfall sicherlich hilfreich sein“, heißt es beim Autoclub.

Tatsächlich arbeiten die Systeme in der Praxis nicht sehr zuverlässig: Die Fachzeitschrift „Auto, Motor und Sport“ hat die Geschwindigkeitswarner von 146 Fahrzeugen getestet – mit verheerendem Ergebnis: Nur 18 der Fahrzeuge bekamen überhaupt Wertungspunkte. Der Rest musste als ungenügend gewertet werden.

Mittlerweile überbieten sich die Hersteller deshalb darin, den Ausschaltvorgang möglichst unkompliziert zu gestalten. Bei Modellen asiatischer Hersteller ist das meist sehr kompliziert, besonders einfach geht es bei neueren Fahrzeugen aus dem VW-Konzern. Hier kann das Abschalten auf eine Taste des Lenkrads gelegt werden.

Ob die EU das weiter toleriert, wird sich erst noch zeigen: Die Autohersteller müssen anonymisiert Daten aus den Autos nach Brüssel schicken, zum Beispiel wie oft die Systeme abgeschaltet werden und wie schnell danach gefahren wurde. Es ist also gut möglich, dass die Vorschrift nach der Überprüfung weiter verschärft wird. So plant die EU bereits eine automatische Drosselung der Geschwindigkeit statt eines Warntons.

„Entmündigung des Bürgers“, nennt der AvD solche Ideen, deren Sicherheitseffekte ohnehin fraglich sind. Zwar ist in Deutschland bei jedem vierten tödlichen Verkehrsunfall „nicht angepasste Geschwindigkeit“ die Ursache. Aber nur in fünf Prozent der Fälle wurde dabei die zulässige Höchstgeschwindigkeit überschritten. Ist beispielsweise auf der Landstraße Tempo 100 erlaubt, ist dieses Tempo in einer Kurve oder bei Regen dennoch gefährlich.

Ob der Tempowarner Autos sicherer macht, ist also umstritten. Teurer werden sie dadurch auf jeden Fall. So musste Dacia seine Preise jüngst um gut 1000 Euro anheben, unter anderem, weil für den Geschwindigkeitsassistenten eine Kamera in die Windschutzscheibe eingebaut werden musste. Darauf hätte Dacia – und sich auch die meisten ihrer preissensiblen der Kunden – sicher gern verzichtet.

So dürfte der Geschwindigkeitsassistent neben dem fest hängenden Deckel von Getränkeflaschen zu einer der unbeliebtestem EU-Regulierungen gehören. Aber Brüssel hat noch mehr Pfeile im Köcher: So müssen Autos ab diesem Jahr mit der Möglichkeit versehen sein, einen automatischen Alkoholtest mit Wegfahrsperre einzubauen. Das heißt, stellen Sensoren im Auto fest, dass der Fahrer getrunken hat, fährt es nicht los.

Derzeit forschen Zulieferer an solchen Systeme, deren Einbau auch nachträglich möglich ist. So hat Magna einen Sensor entwickelt, der die Alkoholmoleküle in der Atemluft des Fahrers erkennt. Zusätzlich beobachtet eine Kamera, ob die Bewegung der Augen auf Trunkenheit hindeuten. Ist alles in Ordnung, fährt das Auto los – bis zum ersten Tempolimit. Dann darf der Fahrer im Zweifelsfall laufen. (cen)


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Bilder zum Artikel

Intelligente Geschwindigkeitsregelanlage in einem VW ID Buzz.

Intelligente Geschwindigkeitsregelanlage in einem VW ID Buzz.

Foto: Autoren-Union Mobilität